Sophie und das Kind am Marktbrunnen

Eine gar garstige Geschichte von Gestern

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Mein Aufsatz "Das Sophiendenkmal und der St. Georgsbrunnen" erschien in Herbst 1997 im Rahmen der "Marburger Stadtschriften" Bd. 59:


        Der Marburger Markt
        - 800 Jahre Geschichte über und unter dem Pflaster
        S. 134 - 150.


Da die erste Fassung dieser wahren Geschichte durch den behandelten Gegenstand zwangsläufig auch einige satirische Qualitäten besaß - was bei gewissen Leuten zu der Befürchtung führte, "es könnten damit politische Empfindlichkeiten berührt werden" - einigte ich mich mit der Buchredaktion darauf nur eine geglättete Fassung in Druck zu geben.

Aus persönlichem aktuellem Anlaß und weil es nun lange genug her ist, das sich einer der damals Beteiligten tangiert fühlen könnte - und natürlich der Satire wegen - findet man nun an dieser Stelle die (gekürzte, aber nicht veröffentlichte) legendäre Erstfassung !




Information zum Text:

Wissenschaftliche, in einem Buch veröffentlichte Seminararbeit an der
Philipps-Universität Marburg, Fb 09 !
- Verwendete Literatur und Fußnotenliste auf Nachfrage

Information zum "Download":

Textumfang ca. 69.000 Byte


Sankt Georg


Der Marktbrunnen

Sophie von Brabant

Das Sophiendenkmal


Die Denkmäler des Markplatzes - oder:

Die Möblierung der "gutt' Stubb" der Stadt mit Sinn

      Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den freiplastischen Denkmälern auf dem Marktplatz, dem St. Georgs-Brunnen und der Sophie von Brabant. Sie wurden in die kleine Marburger Welt hineingestellt und spiegeln die Läufe und sich wandelnden Ansichten der großen Welt um sie herum, was sich in der Diskussion um ihre Entstehung, in Bauakten, Zeitungsartikeln und Festreden zeigt.

      Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich die Szenarien gleichen, für die als Bühne nicht ohne Grund der Marktplatz gewählt wurde, denn er ist nicht mehr nur Warenumschlagplatz, sondern wurde gerade im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem Ort, an dem sich Bürger und Besucher begegnen und miteinander feiern - und wo auch Volk und Herrschaft in Kritik oder Zustimmung aufeinander treffen. Die Kunstwerke bilden dabei die Kulisse und sind ein stummer, aber zugleich beredter Kommentator des Zeitgeistes.Der ihnen dabei unterlegte "Sinn" hat eine längere oder kürzere "Verfallszeit", wird vergessen, verdrängt, oder mit neuen Vorzeichen versehen. - Kunstwerke und andere Denkmäler im öffentlichen Raum sind nie ein Produkt des Zufalls oder einer rein ästhetischen Eingebung, sondern werden von Geldgebern gestiftet, deren Absicht es ist, damit die Gedanken des Betrachters in eine gewünschte jeweilige Richtung zu lenken, was sich nicht zuletzt auch in der gewählten Formensprache spiegelt.

      Bei der Betrachtung soll aber hier nicht die gewohnte klassische kunsthistorische Methode gewählt werden; sie läßt sich für diese Objekte an anderen Orten nachlesen; man sollte eher versuchen ohne Wertung den Hintergründen dieser Stiftungen auf den Grund zu gehen. - Daran soll erinnert werden, indem zerrissene Stränge nun wieder zusammengeknüpft werden...


... reitet für Deutschland - oder:

St. Georg - ein lokalpolitisches Chamäleon


      In Marburg fand ausgerechnet zu Zeiten des Faschismus eine erstaunlich engagierte, fast moderne Diskussion zwischen Stadt, Stifter, Künstler und außenstehenden Beobachtern um die Neugestaltung des Marktbrunnens statt.

      Der Baldewein'sche Wappenbrunnen von 1535 hatte fast 200 Jahre überdauert, dann war seine Figur, ein stehender Ritter mit Fahne, verwittert und auf seiner sechseckigen Säule mit dem Schlußstein mit den sechs wappenhaltenden Schildknappen wurde 1725 die Nymphe von Johann Friedrich Sommer aufgestellt. So stand stand die Schöne, auf ein großes gerolltes Seerosenblatt gestützt, die Haare mit Perlen durchflochten, ihre Quelle auf dem Markt beschützend, knapp 150 Jahre. Das sie den Spitznamen "Flora" erhalten hatte lag wohl an der Seerosenblüte, die die Nackte in der linken Hand hielt, und die ihre Zugehörigkeit zum Element Wasser symbolisierte - und am Marburger Bauernvolk, das keinen Sinn für solche Feinheiten höfischer Barockkunst hatte. Es folgte 1861 der alte St.Georgs-Brunnen, der aber nur 90 Jahre hielt. Er war aus hygienischen Gründen völlig modernisiert worden: Das offene Brunnenbecken verschwand um die Eimerfüllung mit Frischwasser zu gewährleisten, die Brunnenkammer wurde überbaut und eine Säule mit Wasserspeiern über zwei kleinen Becken daraufgesetzt. Unter der künstlerischen Leitung des Architektur-Professors Friedrich Lange aus Kassel, der zu dieser Zeit die Renovierungen an der Elisabethkirche leitete, wurde der Brunnen im neugotischen Stil entworfen und von dem Kasseler Bildhauer Johann Adam Joseph Müller zusammen mit einer Figur des Heiligen Sankt Georg aus Gußzement ausgeführt.

      Ein kleine Marburger Legende besagt: "Auf Sankt Georg, den Drachentöter verfiel man aus einem groben Mißverständnis des Marburger Stadtwappens. Friedrich Küch hat uns später belehrt (...), daß unser Siegelreiter landgräflichen Ursprungs ist und gar nichts mit St. Georg zu tun hat." - Das man sich damals geirrt hätte in der Motivwahl ist eigentlich unwahrscheinlich; man könnte mit der gleichen Berechtigung anmerken, daß es 1850 in unmittelbarer Nähe des Brunnens das Gasthaus zum "Alten Ritter" gab, auf den die Figur Bezug nahm; ähnlich wie schon beim Bären-Brunnen am Steinweg und dem Mönchs-Brunnen am Pilgrimmstein, die auch Bezug auf benachbarte Gasthäuser nahmen. Georg war der heilige Ritter, der im Mittelalter den "mohamedanischen Drachen" als Patron des Deutschen Ordens auf seinen Kreuzzügen bekämpfte; seit dem 16. Jhdt. wurde der Schlachtenhelfer und Kämpfer gegen das Böse auch gern von protestantischen Fürsten für propagandistische Zwecke umgedeutet und so fügte er sich als Heiliger auch problemlos in eine überwiegend protestantische Stadtgemeinschaft ein. - Aber das Material der in dem damals neuartigen Zementguß-Verfahren hergestellte Reiterfigur erwieß sich als nicht wetterbeständig und mußte immer wieder ausgebessert werden...

      Die Geschichte des neuen, heutigen Brunnens beginnt 1937. Ritter Georg ist an mehreren Stellen gerissen und seit Mitte März Kopflos. Eine Instandsetzung käme zu teuer und so wird angeregt, daß man die Figur durch eine Bronzeplastik ersetzen solle. - Bei Konservator Dr. Bleibaum in Kassel wird nachgefragt, ob man den Brunnen erneuern dürfe. Es wird, argumentiert, daß der Brunnen "als Nachahmung der Gotik künstlerisch nicht besonders wertvoll erscheint und sich außerdem in einem halbverfallenen, verwahrlosten Zustand befindet". Der Konservator antwortet, er habe sich bei seinem letzten Besuch den Brunnen angesehen und gegen eine Erneuerung sei nichts einzuwenden, "da es sich um eine Plastik aus der Zeit der Instandsetzung des Brunnens in der Mitte des vorigen Jahrhunderts handelt"; nachgeahmte Gotik galt nicht als erhaltenswerte Kunst. - Vor der Abtragung müsse aber ein Entwurf des neuen Brunnens vorgelegt werden.

      Im November 1937 erscheint Ludwig Bopp, Besitzer der Marburger Brauerei, auf dem Stadtbauamt und kündigt - auch im Namen seines Bruders - an, daß Ritter Georg seiner Meinung nach einer vollkommenen Umgestaltung bedürfe. Eigentlich hätte die jüdische Bankiersfamilie Strauss vorgehabt der Stadt einen Brunnen zu stiften, aber "Die Stiftung dieser käme jetzt nicht mehr in Frage, sodaß sie beide sich entschlossen hätten, ihrer Vaterstadt Marburg einen würdigen Brunnen auf dem Marktplatz zu stiften. Die einzige Bedingung, die sie an die Stiftung knüpften, wäre die, daß der Bildhauer Rudolf Breidenbach (...), der einen guten Namen habe, die Anlage des Brunnens ausführe" So brachte man sich schon damals den ausführenden Künstler mit. Und damit auch die Stadt zufriedengestellt sei wurde betont, daß alles nur in völliger Übereinstimmung mit dem Kunstbeirat geschehen würde - einer Institution, die sich Marburg fünfzig Jahre später nicht mehr leisten würde. - Tags darauf fand eine Unterredung mit Bürgermeister Voß statt. Man beschloß "die Stiftung nur unter der Bedingung anzunehmen, daß ein künstlerisch hervorragender Entwurf vorgelegt wird, der sich dem historischen, städtebaulich bedeutenden Rahmen des Marktplatzes würdig einfügt."

      Das Rudolf Breidenbach aus Köln als ausführender Künstler verlangt wurde, hatte quasi familiäre Gründe: Der Sohn der Hausdame der Familie Bopp, einer Frau Ahrens, war mit Breidenbach eng befreundet; beide hatten sie in Kassel Bildhauerei studiert und er war über diese Freundschaft auch dem Hause Bopp eng verbunden. Außerdem war er über Ausstellungen in Kassel, Hersfeld und Fulda und sein Atelier zu einiger Bekanntheit in der Region gekommen. - Zunächst setzte er sich mit den Stiftern über den Brunnenentwurf auseinander; ihnen hatte eine monumentale Brunnenanlage vorgeschwebt, mit der sie sich und ihrer Familie ein angemessenes Denkmal setzen wollten. Man hatte sich auf einen Zweischalenbrunnen geeinigt mit einem von Schildkröten getragenen Becken und einer Reiterfigur auf der Mittel-Säule. Im Juli 1938 melden sich die Stifter bei der Stadt und stellen den Entwurf vor. In der Beschreibung Breidenbachs stellt er sich so dar: "Das obere Becken ist bedeutend größer geworden und beherrscht jetzt mehr die Anlage. Das untere (...) habe ich in ein ganz niedriges sechseckiges Becken umgearbeitet, das noch etwas in den Boden eingelassen ist und somit in der Wirkung ganz zurücktritt."

      Der Magistrat findet wenig Gefallen an der Idee und mahnt: "Die Errichtung eines Brunnens auf einem historischen Marktplatz ist eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, die bisher nur in den seltensten Fällen gelungen ist. (...) Meistens lag das daran, daß unsere Zeit keinen organisch gewachsenen Stil besitzt, der sich den alten Stilen ebenbürtig anschließt und zum anderen daran, daß die neuen Brunnen oder Denkmäler zu anspruchsvoll auftraten. (...) Bei dem Marktplatz ist jedoch eine weit größere Bescheidenheit und Zurückhaltung notwendig. Ich verweise auf die bekannten Grundformen von Marktbrunnen, bei denen sich die Künstler früherer Zeiten meistens auf ein Becken mit senkrecht stehenden Wänden beschränkt haben (Kump), und demgegenüber die figürliche Darstellung zurücktrat (...). Da es sich bei unserem Marktplatz bis auf wenige unschöne Häuser um einen geschlossenen historischen Platz handelt, würde ich es für richtig halten, wenn sich die Grundidee zu einem Brunnen doch mehr den historischen Formen anschließt" Man wollte keine moderne Innovation auf dem Marktplatz, sondern bevorzugte die konservative Lösung indem man an die Kumpfbrunnen von Baldewein und Sommer anschließen wollte.

      In einer kleinen Randnotiz findet sich die Bemerkung: "Herrn Oberbürgermeister (...) vorgelegt zwecks Rücksprache mit Herrn Professor Bantzer". Der Maler und Kunstprofessor Carl Bantzer und Rudolf Breidenbach dürften sich über die Kunstakademie in Kassel gekannt haben und der alte Lehrer war sicher interessiert zu sehen, wie sein ehemaliger Schüler mittlerweile arbeitete. - Die Brüder Bopp leiten das Schreiben weiter und der Künstler verteidigt sich: "Ich war von Anfang an der Ansicht, mich an ältere Vorbilder anlehnen zu müssen, bin dann jedoch dem Wunsche der Stifter nach einer großen Plastik entgegen gekommen." - Unterdessen hatte das Stadtbauamt unter Leitung von Stadtbaurat Dierschke Rücksprache gehalten und fasst das Ergebnis zur Arbeitsdirektive zusammen: "Ich habe weiterhin inzwischen Gelegenheit gehabt, mit Herrn Professor Bantzer in Willingshausen die Angelegenheit durchzusprechen. (...) Ich habe Ihre Grundidee zur Figur dabei aufgenommen; nur wird je nach der Lösung des Beckens eine etwas kompaktere oder leichtere Gestaltung, auch der Figur, zweckmäßig sein. Herr Professor Bantzer (...) äusserte zu der Figur ferner noch, daß es bei der eleganteren Gestaltung der Säule auch notwendig wäre, daß Figur und Gruppe etwas leichter und durchsichtiger geschaffen würde. (...) Im übrigen wirkt der Aufbau der Figurengruppe, soweit es aus Ihrem Modell ersichtlich ist, durchaus überzeugend. - Ich glaube (...), daß unter Zugrundelegung des Beckenentwurfs No.1 und dem Figurenaufbau Ihres ersten Entwurfs eine sehr schöne Lösung der gesamten Brunnenanlage gefunden werden kann und würde mich freuen, wenn ein kleines Modell diese meine Ansicht bestätigen würde."

      Nun beginnt eine lange, intensive Diskussion um Proportionen und Maße, Gestalt und Gestaltung des Brunnens zwischen dem Bildhauer Breidenbach, dem Stadtbaurat Dierschke und Dritten. Kein Detail bleibt unbeachtet und die ganze Geschichte ist ein Beispiel für das Wechselspiel von künstlerischer Freiheit, Stifterwunsch und Hoheit der Stadt über die Gestaltung ihres öffentlichen Repräsentationsraums. Die Brüder Bopp, die geldgebenden Stifter, zogen sich, nachdem ihr Entwurf abgelehnt worden war völlig zurück, und äußerten sich in der weiteren Diskussion zur Gestaltung nicht mehr.

      Zuerst wird das passende Steinmaterial gesucht. Breidenbach der gern in Kalkstein arbeitete schreibt, wahrscheinlich auf eine fernmündliche Anfrage hin: "Steinproben laufen nebenher. In Frage käme nur geschliffenes Material; ich dachte an Kernstein." Eine Woche später: "Die Hausteinwerke schreiben mir, daß das Material der roten Muschelkalksteinbank beim Bau der neuen Reichskanzlei verwandt worden sei; immerhin ist der Kernstein ein schönes und auch malerisch wirkendes Material." - Diese Anregung schien aber zu exotisch und der Stadtbaurat schreibt: "Der (...) Kernstein wäre für die Ausführung zwar geeignet; ich vertrete jedoch den Standpunkt, daß nach Möglichkeit das bodenständige Sandsteinmaterial verwendet werden muß, das zu den historischen Bauten in seiner Struktur und Farbe besser passt. (...) Mir ist nun in den letzten Tagen eine Probe aus einem Bruch vorgelegt worden, dessen Material sehr fest und wetterbeständig ist. Es handelt sich um einen bläulich-rötlichen Sandstein aus Betziesdorf (...). Derselbe Stein ist vor 10 Jahren zu Ergänzungsarbeiten bei der Elisabethkirche (Galerie und Turm) verwendet worden."

      Bei Konservator Bleibaum wird über das Zwischenergebnis Meldung gemacht: "Es ist (...) ein neuer Entwurf aufgestellt worden, der hinsichtlich der Beckenform (...) der historischen Kumpform entspricht und sich daher in den Rahmen des Marktplatzes einfügt." - Er antwortet: "Der zweite Vorschlag für die Gestaltung des Brunnens ist zweifelos besser als der erste. (...) Ich würde daher empfehlen, auf die Unterteilung überhaupt zu verzichten und stattdessen eine schlichte, aber monumentaler wirkende Säule vorzusehen." - Damit ist die zweischalige Brunnenanlage vom Tisch und der Kumpfbrunnen festgelegt.

      Im nächsten Brief kündigt Stadtbaurat Dierschke an: "Ich werde jetzt die Grösse des Brunnens an Ort und Stelle durch ein Lattengerüst markieren lassen und hoffe Ihnen anschließend die endgültige Entscheidung (...) mitteilen zu können." - Eine Woche später ist man sich über die Proportionen klar geworden: "Der Entwurf ist weiterhin an Hand des Modells und eines Lattengerüstes an Ort und Stelle mit Herrn Professor Bantzer und Herrn Architekt Rumpf durchgesprochen worden. Beide Herren hielten den Entwurf zur Durchführung für geeignet." Der Künstler selbst war von der Modellprobe offenbar nicht rechtzeitig benachrichtigt worden: "Sie haben sich nun doch noch zu einer Prüfung der Größenverhältnisse durch eine Kulisse entschlossen, bei der ich gerne zugegen gewesen wäre." Der Stadtbaurat schreibt daher ausführlich: "Die Überprüfung der Beckenformen durch ein Holzgerüst an Ort und Stelle ergab, daß die Höhe des Beckenrandes von 1,10m (...) etwas zu hoch erscheint. (...) Weiterhin besteht der Wunsch nach etwas schlankerer Erscheinung der Säule. (...) Ich möchte noch auf das Stufenverhältnis hinweisen (...) Ich bitte Sie zu überlegen, ob das dem menschlichen Schritt entsprechende Verhältnis durch Weglassen einer Stufe oder durch Verbreiterung des ganzen Unterbaues erreicht werden kann. Eventuell müßte der Mittelpunkt des Brunnens um eine Stufenbreite verschoben werden, da nach der Strasse zu eine Verbreiterung des Unterbaues aus Gründen des Verkehrs nicht zweckmäßig wäre."

      Mitte Dezember werden auch die Stifter von der Baugenehmigung des Brunnens informiert: "Ich teile Ihnen daher mit, daß ich mit der Ausführung des Brunnens nach dem von Herrn Bildhauer Breidenbach in Zusammenarbeit mit Herrn Stadtbaurat Dierschke aufgestellten Entwurf einverstanden bin. - Ich hoffe, daß der neue Brunnen eine wirkliche Bereicherung unseres schönen alten Marktplatzes darstellen wird, und gebe meiner Freude darüber Ausdruck, daß Sie bereit sind, auf diese Weise zu einer Verschönerung unserer Stadt beizutragen."

      Ende Januar 1939 wird die 1,25m hohe Brunnenfigur entworfen: Der Künstler schreibt: "Hierbei sende ich Ihnen eine Aufnahme der Skizze des Georgs (...) und möchte nun gerne mal Ihre Meinung hören" - Der Stadtbaurat läßt sich mit der Beurteilung Zeit und antwortet einen Monat später: "Ich habe mir ihre Skizze zum Georg wiederholt angesehen und bin zu der Überzeugung gekommen, daß die Gesamtverhältnisse und die Verteilung der Massen sehr glücklich sind. - Im einzelnen möchte ich (...) auf diejenigen Punkte hinweisen, die m.E. noch nicht ganz überzeugend gelöst sind; das ist zunächst die hintere Partie des Pferdes, bei dem man den Wunsch hat, daß sie noch etwas kraftvoller den Ansatz zum Sprung ausdrückt (...). Weiter möchte ich noch vorschlagen, die Figur des Drachen etwas zu verändern. Der Drache liegt etwas zu ruhig, man kann beinahe sagen gemütlich da. Wünschenswert wäre der Ausdruck von etwas mehr verhaltener Wut und ohnmächtigem Aufbäumen. Auch die Schwänze, sowohl vom Drachen als vom Pferd erscheinen mir noch nicht ganz glücklich. Sehr schön ist dagegen der vordere Teil des Pferdes und besonders der Kopf."

      Während Breidenbach einen klassischen Georg gestaltet hat - den Sieger auf einem aufgezäumten Pferd über einem sterbenden Drachen dem die Lanze bereits in der Brust steckt - drücken sich in Diersckes Wünschen die Ideale faschistischer Plastik aus: Kraft verbunden mit Dynamik und "edle", d.h. idealtypische Gestaltung von Mensch und Tier. Das Pferd als Symbol gebändigter Wildheit soll mehr Kraft zeigen; der Drache soll nicht als Besiegter erscheinen, sondern als wütender Kämpfer - was wiederum Georg samt Pferd als kämpfende Helden auftreten läßt und nicht "nur" als Sieger, womit die ganze Gruppe zu einem Symbol kämpferischer Tugenden für den zeitgenössischen Betrachter wird. - Breidenbach macht sich sehr weitgehende Gedanken zu einer neuen Konzeption und legt weitere Entwürfe vor; Dierschke äußert sich zufrieden: "Besonders der Anblick des edelgestalteten Pferdes bereitet ausgesprochenen Genuß." Der Künstler macht noch eine Änderung an der Gestalt des Georgs und kommentiert: "Die Figur geht jetzt besser mit dem Pferd zusammen und sieht auch etwas männlicher aus." Damit ist die Diskussion über die Gestaltung der Brunnenplastik abgeschlossen, was offene Fragen zurückläßt: Worin besteht die scheinbar geringe Veränderung mit offenbar weitreichenden Folgen?

      Aus dem klassischen "Drachentöter" ist ein "Drachenkämpfer" geworden: Georg ist immer noch der junge Held mit fliegendem Haar auf einem aufbäumenden Pferd. Der Drachen, eigentlich ein Basilisk, ist aber noch lebendig; er liegt unter dem Pferd auf dem Rücken, chancenlos besiegt und böse mit offenem Maul fauchend. Mit seinen Fledermausflügeln ist er dem Reich des Bösen und der Dunkelheit zugehörig und ringelt seinen Schwanz hinterhältig um den Hinterlauf des Pferdes um es doch noch zu Fall zu bringen; mit den Vorderpfoten versucht er Georgs Stoß abzufangen, der in der nächsten Sekunde auf ihn niederfahren wird. Georg und das Pferd sind Kampfgerüstet: Georg mit Harnisch Bein- und Armschienen bewaffnet mit Lanze und Schwert und das (Kriegs-)Pferd mit gestutztem Schweif und einem Sattel um ihn sicher zu tragen. Doch eines ist ungewöhnlich: Georg trägt keinen Helm - und auch das Pferd hat kein Kopfzaumzeug, es folgt seinem "Führer" vertrauensvoll und freiwillig; nur auf den Druck der linken Hand hin, die Georg leicht auf die Pferdemähne gelegt hat. Beide bilden sie so eine Einheit des Willens und der Kraft in der Überwindung des Bösen - und das ist die eigentliche Aussage der faschistisch umgedeuteten, in dieser Form ungewöhnlichen Darstellung des Reiterheiligen: "Ein Volk, ein Reich ein Führer" - das verlangt einen gemeinsamen Willen, der sie zu dieser Einheit bindet!

      Nach dem deutschen Überfall auf Polen war der Krieg am 1.9.1939 ausgebrochen - auf dem Marburger "Zauberberg" sorgte man sich noch um das Bauvorhaben und um ästhethische Proportionen: "Wenn auch bei der heutigen Lage die Aufstellung des Brunnens nicht zweckmäßig wäre, so halte ich es doch für richtig, wenn alle Werkstücke auf dem Werkplatz fertiggestellt werden, damit die Aufstellung des Brunnens bei einer Besserung der allgemeinen Lage sofort erfolgen kann. (...) Um den Säulenschaft in der Wirkung schlanker zu bekommen, bin ich wieder auf eine runde Säule gekommen und auch das im ursprünglichen Entwurf viereckige Zwischenglied mit den Brunnenröhren ist vermieden (...) Wie steht es mit der Fertigstellung der Figurengruppe? Haben Sie überhaupt Material und sind Sie in der Lage den Guss bald vorzunehmen?" - Daraus entspinnt sich eine abschließende Diskussion um die Gestaltung der Brunnensäule. Breidenbach antwortet: "Es ist gut, daß Sie sich das Modell angesehen haben. (...) Ohne Gruppe wirkt der Schaft selbstständig, im anderen Falle nur als Überleitung vom Becken zur Gruppe. (...) Die Rundplastik wird zu dem großen Becken ganz anders wirken, als in der Zeichnung (...) Z.Zt. wird die Form für den Bronceguss gemacht; schönes Metall ist noch vorhanden." - Zwei Monate später: "Ich habe verschiedene Versuche gemacht, um die richtige Stärke der ganzen Säule festzustellen, und habe dabei das Gefühl gehabt, (...) daß die Säule zu gleichförmig ist, zu gedrechselt. Das achteckige Teilstück für die Wasserspeier habe ich daher im Verhältnis etwas stärker gemacht." Dierschke antwortet zufrieden: "Die Verstärkung der Säule gegenüber dem Modell 1:1 war unbedingt notwendig."

      Auch anderes wird diskutiert; der Künstler schreibt: "Hierbei sende ich Ihnen die Zeichnung für die Wasserspeier zur Ansicht bevor ich das Gußmodell modelliere. Ich (...) dachte die Ausgestaltung des Auslaufs als Drachenkopf sei geeignet" Der Stadtbaurat läßt sich Zeit mit der Antwort und forscht über die korrekte Form nach: "Wenn ich mich zu ihrer Zeichnung für die Wasserspeier noch nicht geäußert habe, so lag das daran, daß ich zunächst wegen den Dimensionen Bedenken hatte und mit dem Brunnen im Hof des Archivgebäudes an Ort und Stelle Vergleiche ziehen wollte. Das ist nun inzwischen geschehen und ich habe festgestellt, daß die Abmessungen ähnlich sind." - Der Brunnen im Innenhof des 1938 eingeweihten Staatsarchivs von Gustav Scheinpflug, erweist sich im Vergleich des Aufbaus fast als Zwillingsbruder des Marktbrunnens: Die Säule ist schlank und weniger barockisierend ausgebaucht, aber im Aufbau ebenso über verschiedene geometrische Formen gestaffelt: Säule, Würfel, Sechseck; beim Marktbrunnen sind letztere Formen vertauscht. Auf der Brunnensäule sitzt der hessische Löwe mit Wappenschild. Er wird von einem Kapitell mit vier wasserspeienden (Reichs-) Adlerköpfen getragen. Auf einem viereckigen Zwischenteil unter der Säule sind vier bronzene Wasserspeier die aus den Mündern von Masken hervorbrechen. Das Becken ist achteckig und profiliert wie der Maktbrunnen. Beide Brunnen sind auf einer Treppenanlage aufgebaut. Die vorgestellten programmatischen Platten an den Längsseiten des Beckens zeigen auf 4 von 8 Platten "Nährstand und Wehrstand", "Theorie und Praxis", "Sporttreibende Jugend" und "Lebensalter". Das Bildprogramm beschreibt Gegenwart und Vergangenheit, Jugend und Alter, die vier Elemente, Mann und Frau, die Lebensalter - auch andere Paarungen aus dem klassischen Formenkanon lassen sich finden. Sie stellen die Ideale einer, zu verschiedenen symbolträchtigen Tätigkeiten versammelten "Volksgemeinschaft" dar; der Staat selbst empfiehlt sich in Kapitell und Figur der Brunnensäule als Lebenspender (= Wasser) - anders als der Marktbrunnen, der ein Tugendprogramm für das Volk auf dem Marktplatz trägt.

      Langsam erreicht der Krieg auch Marburg. Der Bildhauer hatte beim Wasserwerk eine Kennziffer für eine Umwälzpumpe über 300kg beantragt. Die Antwort fällt enttäuschend aus: "Auf das Schreiben vom 15.12.1939 teilen wir mit, daß dem Stadtbauamt alle Anträge auf Zuteilung von Kennziffern abgelehnt worden sind, sodaß wir leider z.Zt. keine Möglichkeit sehen, Ihnen die Kennziffer für den Umbau des Marktbrunnens zur Verfügung zu stellen." - Das Reich machte Mobil und die Administration hatte wichtigeres zu tun, als Marktplätze zu verschönern... - Ungeachtet dieser technischen Schwierigkeiten machte man sich Gedanken über letzte Details, die aber nicht mehr zur Ausführung kamen: "Ich weiß nicht, ob wir uns darüber schlüssig geworden waren, die Aufstellvorrichtung zwecks Wasserentnahme bei dem Marktbrunnen ganz fortzulassen, oder ob es doch praktisch wäre an einer oder vielleicht an zwei gegenüberliegenden Stellen diese Vorrichtung anzubringen? An den wöchentlichen Markttagen tritt sicher öfter Bedarfsfall ein" Als Antwort: "Sehr geehrter Herr Breidenbach! Auf Ihr Schreiben (...) teile ich Ihnen mit, daß ich es auch für praktisch halte, an zwei gegenüberliegenden Stellen des Brunnens eine Aufstellvorrichtung für Wassereimer anzubringen. An den Markttagen wird besonders im Sommer beim Blumenverkauf ein Bedürfnis vorliegen." und Stadtbaurat Dierschke grüßt ein letztes Mal schriftlich mit "Heil Hitler!"

      ... damit endet der Schöpfungs-Akt des Marburger Marktbrunnens. Eine Aktennotiz vom Februar 1940 besagt, daß Herrn Bildhauer Breidenbach in Köln mündlich mitgeteilt worden sei, daß während des Krieges der Marktbrunnen nicht aufgestellt werden kann und das ganze Vorhaben zurückgestellt werden muß. - Fünf Jahre später herrscht Katerstimmung in Marburg, wo es einen besonders hohen Anteil an linientreuen Parteigenossen gegeben hatte. Für den fast schon vergessenen Marktbrunnen begann die demokratische Umformung von faschistischen Tugendhelden zum heroischen kalten Krieger ...

      Nach dem Krieg, im Januar 1946, meldet sich Rudolf Breidenbach: "Sehr geehrter Herr Baurat! (...) Wie ich hörte, sind Sie wieder im Amte tätig und haben somit den Krieg gut überstanden. Marburg hat wohl auch weniger gelitten, als z.B. Köln (...) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich bald etwas über die Bauaussichten betr. des Brunnens erfahren könnte. Die Georgsgruppe müsste zum größten Teil neu gegossen werden, da sie damals noch nicht montiert, zum Teil noch erst geformt war; Bonceteile sind gestohlen, Formteile zerstört worden. Sollte Aussicht bestehen, daß der Brunnen in absehbarer Zeit aufgestellt werden könnte, würde ich für eine beschleunigte Inangriffnahme des Boncegusses Sorge tragen."

      Die Stadt stellte das Jahr 1947 in Aussicht. Ein Jahr später ist die Figur auftragsgemäß vorgeformt und das seit 1939 eingelagerte Steinmaterial könnte aufgestellt werden, aber das Vorhaben wird zurückgestellt. Die Wiedervorlagetermine vom 20.3.1948 und 26.7.1948 kommentieren: "Wenn Baustoff (Zement) freigegeben wird!" - "Kein Geld!"; und man könnte noch hinzufügen "kein Interesse!", denn der Brunnen stellte eine peinliche Erblast des Tausendjährigen Reiches für die Stadt dar. - Deutschland steckte im Wiederaufbau, Wohnungen mußten gebaut und Häuser instandgesetzt werden; Baustoffe waren kontingentiert. Außerdem war die Vollendung des Brunnens durch die rapide Geldentwertung in Frage gestellt und die Stadt schreibt mit Blick auf die bevorstehende Währungsreform: "Die Angelegenheit muß solange ruhen, bis fest steht, welchen Betrag die Stifter des Brunnens bereitstellen können." - Ein halbes Jahr später ergreift der Künstler wieder die Initiative um den Brunnen zu retten und offeriert der Stadt einen Kostenanschlag über 6.389,30 DM zur Aufstellung. Er wird abgelehnt, weil unnötiger Aufwand betrieben worden sei - z. B. wurde bei dem Kostenanschlag erwähnt, daß der Brunnenbehälter innen mit Kupferblech abgedichtet werden würde, was den Sachbearbeiter zu der Notiz anregte: "m.E. gibt es keinen mittelalterlichen Brunnen, in dem ein Kupferkessel steckt. (...) Blei oder simpler Mörtel müssen reichen." Man bevorzugte die "kleine Marburger Lösung".

      Nach Gründung der Bundesrepublik konnte man sich der Stiftung eines neuen "Wir-Gefühls" zuwenden und suchte nach Dingen, die gemeinsam anzupacken waren. Die Identität der Bürger mit ihrer Stadt und dem neuen Staat mußte, so wie die im Krieg zerstörten Häuser, erst wieder aufgebaut werden. Als sich das Leben im Nachkriegs-Marburg allmählich zu normalisieren begann, entsannen sich einige Bürger des Brunnenprojekts. Das Thema wurde auf der Jahreshauptversammlung des Verschönerungsvereins am 1.12.1949 im "Alten Ritter" auf den Tisch gebracht. Ein Drittel der Bausumme war noch aufzubringen; man beschloß Geld und Alt-Metall zu sammeln um zusammen mit der Stadt die Aufstellung zu finanzieren.

      Die Presse berichtet: "Aus dem Arbeitsplan für 1950 sei als wichtigstes Vorhaben die Wiederherstellung des Marktbrunnens hervorgehoben." - daher "Laßt uns mit Optimismus ans Werk gehen, dann wird es wahr werden, daß in diesem Jahre wieder Sankt Georg den Drachenkampf aufnimmt wie unsere Bilder es zeigen." Und es gibt einen Aufruf der lokalen Presse an das Baugewerbe sich auf "freiwilliger Basis durch teilweise Gestellung von Material wie Zement, Sand, Übernahme von Arbeiten, (...) zu beteiligen. (...) Hier soll sich echter Bürgersinn bewähren, wobei dann auch Opfer gebracht werden müssen." - Die Kunstgießerei Leidel in Köln führte den Guß aus und Breidenbach formte die Bonzeteile für dem Wasserkreislauf. Nun entdeckte die Stadt auch ihr Interesse an der schnellen Aufstellung des Brunnens: "Es erscheint uns erwünscht, wenn der Brunnenunterbau nebst Brunnentrog sowie die Brunnensäule für den Marktbrunnen (...) aufgestellt wird, (...) um die von der Fa. Paffrath ab 1.April mit monatlich DM 25,-- angesetzten Lagergelder für das umfangreiche Steinmaterial zu sparen." - Auf Veranlassung des Magistrats werden die Honorare an Bildhauer Breidenbach und Bronzegießer Leidel überwiesen: "Damit die Vollendung der Brunnengruppe nicht aufgehalten wird sind wir bereit von dem durch die Stadt für die Aufstellung des Brunnens vorgesehenen Betrag 2.000,- DM vorschußweise zu zahlen." Ein Kostenanschlag über die Abtragung des alten Brunnens und die Aufstellung des Neuen, vom 10.1.1951 nennt die Gesamtsumme von 6.000,- DM.

      Der alte Georgsbrunnen auf dem Marktplatz bietet mittlerweile ein trauriges Bild: von der Georgsgruppe ist nur noch der Schwanz des Pferdes vorhanden. Mitte Mai 1951 kommt die Meldung vom Abbruch des alten Marktbrunnens: "Am Dienstag ging die Fa. Schaumburg & Baum daran, die alte Marktbrunnensäule abzubrechen. In zwei Tagen war die Arbeit geschafft und zwar so sorgfältig, daß die Steine tadellos geborgen werden konnten. Interessant ist dabei besonders eine große Platte, deren Rückseite eine alte Grabstein-Inschrift zeigt; wir werden darauf zurückkommen. Inzwischen rollen die Steine zum Erlengraben hinunter, wo der alte Brunnen seine Auferstehung feiern wird." Aber in Weidenhausen, auf dem alten Bauhof, scheint er nie angekommen zu sein - und konnte trotz intensiver Recherche bisher nicht ausfindig gemacht werden.

      Die Oberstadtgemeinde beschloß, den neuen Brunnen im Rahmen des jährlich stattfindenden Marktfrühschoppens einzuweihen und das ganze zum 1. Brunnenfest auszuweiten. Die umfangreichen Vorbereitungen gipfelten Anfang Juli in der Umwandlung der Straßen und Gassen um den Markt in ein großes Festgelände. Zur Einstimmung wurden die Marburger aufgerufen auf das kommende Ereignis ein Brunnenlied zu dichten. Das Lied wurde schließlich von dem späteren zweiten Vorsitzenden der Oberstadtgemeinde, Konrad Knabe, verfaßt und von Erich Bils komponiert (1956 beim 2. Brunnenfest fügte Konrad Knabe noch einen vierten Vers auf Sophie von Brabant hinzu). - Im Vorfeld der Aufstellung des Brunnens wird auch die Richtung vorgegeben, in die man zu blicken hat: "Es (das Original des Brunnenmodells) wird werden so schön, wie das Modell es zeigt, wo der Drachen sein Bitte-Bitte macht. Das wird ihm aber gar nichts nützen, sondern St. Georg wird ihn erstechen - der deutschen Zwietracht mitten ins Herz! Denn Einigkeit muß herrschen - wie Donnerstagabend beim Treffen der Festzugsteilnehmer und beim Proben des Brunnenliedes. (...)" Und: "Wir Marburger sehen es ja, wie auf dem Marktplatz der Brunnen neu emporwächst, bald wird St. Georg auf der hohen Säule seine Kampfstellung beziehen und vor unseren Augen im Weiheakt am Sonnabend den 7.7. enthüllt werden. (...) und das ganze Hessenland ist dazu eingeladen, das hier an unserem Marktbrunnen vor 700 Jahren seinen ersten Landgrafen kürte." Der Autor wird mit seiner Einladung im nächsten Artikel konkreter: "Das Brunnenfest in Alt-Marburg wird ein erstmaliges, einzigartiges Erlebnis! Da wird Stadt und Land wirklich mal wieder Hand in Hand gehen. Da sollte man in ganz Hessen verkünden: Auf zum Brunnen, an dem unser Land vor 700 Jahren gegründet wurde! Da sollte man von Bonn aus dem ganzen deutschen Bund verordnen: Auf nach Marburg an der Lahn! Da sollte man den Eisernen Vorhang aufziehen: Ost und West auf zum Brunnenfest! Ganz Europa könnte hier zum ehernen Zusammenschluß kommen - hier wird wahre Einigkeit herrschen! (...) So ist es nur zu begreiflich, daß Weltbild und Hessenfunk zu Aufnahmen in Marburg rüsten, ja daß überall ein Wettrüsten friedlicher Art eingesetzt hat."

      Dann war es endlich soweit: "Im Mittelpunkt die Enthüllung des Brunnens, unter Teilnahme des Bildhauers Rudolf Breitenbach aus Köln. Kein Zweifel (...), daß sein Drachenkampf ungeteiltes Lob finden wird." und um den Brunnen rein zu waschen wird das Errichtungsdatum 1951 in den Stein gemeißelt, vielleicht um Vergessen zu machen wann und wie er entstanden ist; auch die Festschriften dieser Zeit ergehen sich nur in vagen Andeutungen über seine zeitliche und ideologische Verankerung. - Das Fest beginnt: "Böllerschüsse kündigten am Sonnabendnachmittag die feierliche Enthüllung und damit die Eröffnung des Brunnenfestes an. (...) Dann wurde über den Sinn dieses neuen Stadtbrunnens gesprochen, der mit seiner Figur, dem Ritter St. Georg, sinnbildlich das darlegt, was wir uns alle wünschen: Einigkeit und Frieden. (...) Aber in den vielen Jahrhunderten war der Brunnen immer wieder Symbol für uns, er zeigte den Sieg des Ritters über den Drachen, den Sieg des Reinen über das Niedrige, über die Mahnung an alle, sich für die Vaterstadt einzusetzen. Die Brunnenfigur sei aber auch (...) Mahnung für Ratsherren und Stadtverwaltung, das Gute über das Schlechte siegen zu lassen."

      Vier Jahre später fand das 2. Brunnenfest statt, das unter dem Motto stand "700 Jahre Hessen". Ministerpräsident Dr. Georg-August Zinn hatte die Schirmherrschaft übernommen. Der große Festakt begann mit der Enthüllung der Gedenktafel: "Herzogin Sophie von Brabant Tochter der Heiligen Elisabeth gründete an dieser Stätte das Land Hessen". Im Grußwort heißt es: "Unsere Aufgabe ist es, Hessen zu einem starken Hort freiheitlicher demokratischer Gesinnung in einem hoffentlich bald wieder verteinten Deutschland zu machen."; im Bild wurde die Delegation der 28 Festzugteilnehmer aus Eisenach gezeigt, die mit einer Nachbildung der Wartburg im über 2km langen Festzug mitgingen. Nach der Zeremomie wurde ein Einakter mit Sophie von Brabant, Landgraf Heinrich I. und Philipp dem Großmütigen aufgeführt und anschließend zum Volksfest aufgerufen.

      Die Zeit des beginnenden Kalten Krieges beeinflußt auch die Brunnenfest-Nachlese: "Als der große historische Festzug am Sonntag durch die Straßen Marburgs zog, gab es (...) einen einzigartigen Augenblick: Die Abordnung aus Eisenach - herzlich begrüßt wo immer sie sich zeigte (...). Für Minuten enthüllte der festliche Rahmen dem nachdenklichen Zuschauer das innerliche Bild unteilbaren deutschen Geistes. (...)" - Eine andere Eisenacher Abordnug mit 32 Teilnehmern war auf Einladung von Oberbürgermeister Georg Gassmann auch beim dritten Brunnenfest 1961 noch kurz vor dem Mauerbau dabei. Das Programm hielt sich an die von den Vorgängerfesten gesetzten Maßstäbe. - 1977 fand das 4. Brunnenfest; anläßlich des 450jährigen Bestehens der Philipps-Universität statt, nun aber ohne Mitwirkung der "Brüder und Schwestern" aus dem Osten. - 1983 gab es das 5. Brunnenfest und das 6. Brunnenfest fand 1989 anläßlich des 150jährigen Bestehens der Sparkasse statt.


Einer anderen Figur des Marburger Marktplatzes fehlen die Hinweise auf ihre Entstehung, wodurch sie im Laufe der Jahrzehnte schon erstaunliche Wandlungen durchgemacht hat... - Die Rekonstruktion der Entstehung der Sophie war in dieser Form nicht möglich; ihr Geheimnis wird im Rathaus peinlichst gehütet - oder gab es sie in dieser kompetenten Form in unserer sonst so diskussionsfreudigen Stadt im Heute etwa nicht...?

Ist Sophie samt Kind in den Brunnen gefallen ? - oder:

Die Marburger Legende von der deutschen Einheit


      In Marburg gab es seit Beginn unseres Jahrhunderts - abgesehen von einigen Kriegerdenkmälern - nur wenige historische Denkmale, die an bedeutende Persönlichkeiten aus der Stadtgeschichte erinnerten. Als Mitte Dezember 1989 in feierlichem Akt und mit großer Beteiligung von Einheimischen und Besuchern das jüngste Denkmal des Marktes und der Stadt enthüllt wurde, erhielt Marburg die letzte und pointierteste Figur seiner lokalen Version (post-)moderner Kunst. Die Schritte dorthin führten über das heroisch-pathetische "Denkmal der Freundschaft" auf dem Rudolfsplatz, gestiftet von den Marburger Burschenschaften zum 450jährigen Jubiläum der Universität, über den "Hoffmans Lieschen Brunnen", einer Stiftung der Marburger Sparkasse anläßlich ihrer neuen Zweigstelle an der Weidenhäuser Straße und jenem, den eher biederen Geschmack ansprechenden Standbild des Dienstmannes "Christian" auf der Wasserscheide, der vom Lessing-Kolleg zum 20jährigen Jubiläum gestiftet wurde - hin zu dieser Statue einer Frau in nazarenischem Gewand, die mit angewinkelten Armen ein nacktes Kind vor sich herträgt.

      Anläßlich ihres 150-jährigen Gründungsjubiläums offerierte die Marburger Stadtsparkasse der Stadt eine großzügige Spende zur Errichtung eines repräsentativen und lokalgeschichtlich aufschlußreichen Denkmals. Im Aufsichtsrat der Sparkasse hatte die Stadt die Hauptfederführung und so kam vom Vorsitzenden des Verwaltungsrates selbst der Vorschlag auf Sophie von Brabant , nämlich von Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler, der selbst gebürtiger Eisenacher ist und die seit 1988 bestehende Städtepartnerschaft in die Wege geleitet hatte. Der promovierte Historiker Drechsler suchte nach einem Symbol, das beide Städte verband - und wer lag da näher, als Sophie, eine Tochter der heiligen Elisabeth, die aus thüringischem Hause stammte, auf der Wartburg geboren war und sich in Marburg residierend "Herrin von Hessen" nannte. Ihr Sohn Heinrich I. führte ab 1267 das Reitersiegel der hessischen Landgrafen.

      Die weiteren Vorgänge in den städtischen Entscheidungsgremien, blieben bislang im Dunkeln, da die entsprechenden Unterlagen von der Marburger Stadtverwaltung peinlichst gehütet werden. Man wird nicht gerne an die unerfreulichen Auseinandersetzungen um das Denkmal erinnert. Einige Mutmaßungen seien trotzdem erlaubt: Normalerweise wählt der Auftraggeber Motiv und Pose, die ihm angemessen erscheinen. Das Denkmal der "Sophie von Brabant" ist ein Beipiel dafür, wie so etwas glücken - und zur gleichen Zeit scheitern kann ... - Der Arbeitsauftrag zur Erstellung des Denkmals war bereits zwei Jahre vor Aufstellung erfolgt. Der Kontakt zu dem Künstler hatte sich über die Zusammenarbeit der Stadtverwaltung mit dem postmodernen Star-Architekten Jochem Jourdan aus Kassel ergeben, dem die Umgestaltung des Marburger Rathauses seit Mitte der 80er Jahre übertragen worden war. Dieser gab den Tip auf den ihm befreundeten, Künstler Ivan Theimer, ab und die Stadt ging erfreut darauf ein. Eine Delegation von 5 bis 6 Leuten reiste nach Lucca ins Künstleratelier und sprach den Arbeitsauftrag ab. Schriftlich wurde - angeblich - nichts festgelegt; alle Verhandlungen seien mündlich gelaufen, daher gäbe es auch keine Ausschreibungsunterlagen.

      Theimer konnte sich auf die künstlerische Freiheit in der Umsetzung berufen ob der Kritik, eine so nicht bestellte Arbeit abgeliefert zu haben - nur gelang es mir trotz mehrmaligem Nachfragen nicht zu erfahren, was konkret bestellt worden sei. Es hieß: "Fragen Sie besser nicht nach den Einzelheiten der Vorgeschichte! Es gibt berechtigten Anlaß zur Verärgerung über die Unverfrorenheit von Herrn Theimer, mit der er die Stadt über den Tisch gezogen hat, und darüber, daß der Künstler es gewagt hat ein solches Phantasieprodukt abzuliefern, das von der ursprünglichen Intention der Stadt nur noch wenig erkennen läßt." - Die letzte Rate der Figur wurde schließlich noch zähneknirschend bezahlt, und der ursprünglich angestrebte Prozeß wegen Betruges wurde, nach Auflösung der Sparkasse als Auftraggeber und der fortschreitenden Krankheit des ehemaligen Oberbürgermeisters Drechsler fallen gelassen... - Aber mittlerweile sei man zufrieden mit der Statue heißt es im Rathaus; "nicht zu monumental" und "ein netter Blickfang" - aber eben "nicht das eigentlich bestellte!" - Man muß in der Betrachtung also von einem Bestand ohne Vorgeschichte ausgehen.

      Das fertige Denkmal wurde an der südöstlichen Ecke des Marburger Rathauses aufgestellt. Trotz der randständigen Platzierung auf dem Marktplatz wurde die grazile Gruppe schnell zur Touristenattraktion, die zwar viele Fragen aufwirft, sie aber nicht beantwortet, weil es keine befriedigende Deutung gibt. Sicher ist nur eins: Das Denkmal nennt sich "Sophie von Brabant und ihr Sohn Heinrich I.", wurde von der Stadtsparkasse "anläBlich" ihres 150jährigen Jubiläums gestiftet - und: die Szene ist historisch zwar nicht nachweisbar, gehört aber zu den liebsten Legenden der Marburger. Der anekdotische Grundzug dieser Episode ist zu evident und der rührende Empfang und die Huldigung der Sophie von Brabant und ihrem Sohn durch die Bürger am Marktbrunnen, wie ihn Peter Jansen in dem monumentalen Wandbild in der Alten Universität darstellte, hält keiner wissenschaftlichen Überprüfung stand. Bild und Figur sind in Aussage und Haltung ein Resultat der Geschichtsschreibung des 19. Jhdts. und nicht unwesentlich durch lokalpatriotisches politisches Wunschdenken motiviert. Vielleicht sollte man sich fragen: Welche Absicht unterliegt dem Festhalten an einer romantischen Legende, die seit spätestens Anfang des Jahrhundert ins Museum konservativer bürgerlicher Träume gehört?

      Der Standort der Bronzefigur ist zwar nahe des archäologischen Befundes des ersten Marktbrunnens, aber für die Figur selbst unglücklich gewählt. Will man sie wahrnehmen, wie es die Absicht des Künstlers gewesen zu sein scheint, muß man sich ihr quasi durch den Hintereingang des Marktplatzes nähern: Steigt man von der, vom Hirschberg zum Marktplatz führenden Treppe die Stufen herauf, bemerkt man als erstes ein kleines Äffchen das dem Betrachter einen Stich von Marburg entgegenhält. Auf dem Sockel darunter sind acht allegorische Szenen in kleinen, fortlaufend nummerierten Nischen. Sie stellen den idealen Weg der menschlichen Charakterbildung in Vollplasik und Relief dar. Die Felder I.+II. symbolisieren Empfängnis und Geburt; der Mensch erhält eine Seele. III.+IV. Er muß sich orientieren und entscheiden lernen zwischen Gut und Böse. V.+VI. Kampf und Überwindung von Sünde und Hoffahrt durch den Körper. VII+VIII. Bekenntnis zum unvollkommenen Sein und Belohnung mit Weisheit und Macht. Der Betrachter wird dabei von Szene zu Szene um den Sockel herumgeführt. Hat man alle Felder betrachtend abgeschritten, wird zum Schluß noch bedeutet, daß das Gute wie auch die Sünde zuletzt dem Tod unterworfen sind. Die Siegel, Münzen und Stiche verorten diese ideale Entwicklung des Menschen in Marburg und stellen die Verbindung zu Sophie und Heinrich her. - Darüber schreitet die lebensgroße Sophie barfuß in aufrechter Haltung und hebt ihren nackten Sohn Heinrich empor, damit alle Marburger Bürger und jene, die sich sonst noch auf dem Marktplatz befinden, ihm als künftigem Herrscher huldigen können.

      Die große Figur ist auf Fernsicht konzipiert und weniger detailiert gestaltet wie der Sockel und öffnet sich dem Betrachter erst, wenn er respektvoll ein Stück zurück getreten ist. Die menschliche Gestalt ist im postmodernen Kunstwerk hier fast manieristisch aufgefasst und läßt den Betrachter kalt, was nicht zuletzt an der leblosen, puppenhaften Erscheinung des Kindes und dem maskenhaften Gesicht der Frau liegt. Außerdem ist sie steif in der Bewegung, der Faltenfall des Gewandes ist unlogisch. Sie erinnert in Haltung und Ausdruck an Marienbilder der Spätrenaissance, die Haare sind streng aus dem Gesicht zurückgestrichen und zu einem Zopf gedreht, der am Hinterkopf zu einem ringförmigen Knoten mit einem nachflatternden Band zusammengebunden ist, was ihre Vorwärtsbewegung andeutet. Sie ist in einen bodenlangen, faltigen, in der Taille mit einem Band zusammengebundenen, beidseitig offenen Überwurf gekleidet, das erinnert an Gewänder der nazarenischen Malerei. An den Enden des Gürtungsbandes baumeln Eicheln und an Halssaum und Rückenausschnitt ist das einfache Kleid umlaufend mit einer Borte von Marburger-Pfennig-Münzen verziert. Auf diese Weise wird sie, die "Herrin", demokratisiert und zur modernen "Mutter" gemacht. Die Botschaft wurde von manchen "AutorInnen" mißverstanden, denn sie lautet nicht, daß sie auf die Mutterrolle reduziert worden sei, sondern daß sie sich als Mensch über ihre politische Funktion erhebe - was viel bedenklicher ist, erinnert es doch an Fotos zu dem Thema: "Diktator mit Kind und Blumen", denn sie präsentiert ihren Sohn um ihre Interessen durchzusetzen ... - Aber sie ist handwerklich sehr gut ausgeführt und bei aller Kritik sie gehöre nicht zu den innovativen Kunstwerken unseres Jahrhunderts, kommt sie der Optik des alten Marktplatzes hier besser zu Gute als moderne Avantgardekunst!

      Die Figurengruppe drückt die Ankunft nach einer langen Reise aus und die Nacktheit des Kindes Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit, verbunden mit der Bitte um freundliche Aufnahme. So steht sie, leicht bekleidet, am Fuße des Rathauses und präsentiert ihr Kind - ungeachtet aller historischen Tatsachen und Gepflogenheiten ihrer Zeit - aber es ist ein Denkmal unserer Tage und gemacht für Menschen unserer Zeit, die damit angesprochen werden sollen. Sophie ist eine von uns denkt sich der Betrachter - und freut sich an der Geste, wie sie, ganz stolze Mutter, ihr Kind hochhält. - Aber der Gestus ist zu modern: Sophie, eine Herzogin ohne Land, die nach Marburg gezogen kommt, um hier Ansprüche auf ein vakantes Erbe anzumelden, wird nicht allein, in Sack und Asche eingetroffen sein! Eine 24jährige Witwe war sie zwar, aber mit Einfluß und Gefolgschaft ausgestattet und bei weitem nicht so hilflos, wie uns das Denkmal glauben machen will. Herzogin Sophie präsentierte ihren Sohn als künftigen Herrscher sicher nicht wie eine Bäuerin ihre Eier am Marktbrunnen dem Volke, sondern in offiziellem Rahmen auf der Burg. - Volksnähe war im 13. Jhdt. nicht notwendig zum Regieren. Vergessen ist, daß das Mittelalter diesen Akt als Demütigung der Würde eines zukünftigen Herrschers empfunden hätte. Die historische Realität des Abgebildeten tritt in den Hintergrund zugunsten der Identifikationsmöglichkeit im hier und heute. - Wichtig ist nur, daß die Friedensschlüsse von 1263 und 1264 die eigentliche Geburtsstunde des Landes Hessen waren, und nicht das fiktive Jahr 1248, wie es in romantischer Verklärung das auf den Marktbrunnen bezogene Denkmal andeutet, und das auf der Bronzetafel von 1956 am Brunnen zu lesen steht.

      Nicht das politische, strategische oder diplomatische Geschick der "Herrin von Hessen" begründete das Interesse der Nachwelt an ihrer Biographie, sondern ihr Bild als selbstlose (Landes-)Mutter. Und so konnte es für die Seele heutiger Menschen kein anderer Ort gewesen sein als der Brunnen als Allegorie auf den Quell des Lebens, an dem sich diese Szene abgespielt hätte - an einem Ort mitten in der Stadt, wo die Herrin mit ihrem Sohn zu einem Menschen zum Anfassen wird und die Szenerien von Mütterlichkeit und Wasser zum paradiesischen Symbol des Lebens verschmelzen. - Hoffen wir, daß ihr das Kind dabei nicht in den Brunnen fällt - was wäre sonst aus unserem schönen Städtchen Marburg im Hessenlande geworden, das sich schon das ganze Jahr 1989 über auf sein neues, teures Denkmal gefreut hatte, und das dann von den politischen Ereignissen im Herbst förmlich überrollt wurde...

      Geplant war, das Denkmal im November `89 zu enthüllen, aber der Künstler war im Lieferverzug und die tagespolitischen Ereignisse - Öffnung der DDR-Grenze - kamen der Enthüllung zuvor und sorgten für eine kurzentschlossene Verschiebung auf einen späteren repräsentiven Termin. Dadurch war das auf diesen Monat fertig gestellte Faltblatt zur Sophien-Statue zu Makulatur geworden, da sich die Zusammensetzung der Redner und das Gewicht der Reden verschoben hatte. Die Rede des bei der Enthüllung anwesenden Bürgermeisters von Eisenach Klapczynski steht nicht im endgültigen Enthüllungs-Faltblatt. Die anderen Redebeiträge waren so zeitlos, daß sie in gleicher Form überall gehalten werden konnten (Sparkasse) oder mühelos in freier Rede um die neuen Aspekte ergänzt werden (Oberbügermeister) konnten, was allerdings auf dem vorgefertigten Redemanuskript nicht erscheint. - und wie man im Rathaus hören konnte, sprach auch der Künstler auf der feierlichen Enthüllung, sagte aber "nichts konkretes zur Figur", was befremdete. Er zitierte nur einen Text in dem er seine Gedanken von Werden, Vergehen und Ewigkeit am besten vertreten sah. Auf die Niederungen der Tagespolitik wollte er sich nicht einlassen. Offenbar hat er mit seinen hochfliegenden Idealen die biederen Stadtväter überfordert - oder war er etwa selbst überfordert von den Überraschungen der schnöden Tagespolitik? Dabei hätte es einer völlig neuen Interpretation des Kunstwerkes in Hinblick auf die unverhofft ins Haus geflatterte Deutsche Einheit bedurft; die war aber von ihm nicht nicht zu erhalten was sich nochmals manifestierte, als ein weiteres Faltblatt für die Touristen zur Figur erstellt werden sollte und der Künstler sich wiederum weigerte sich zur Figur und ihrer Bedeutung zu äußern...

      Die Situation in der Stadt glich an den ersten Wochenenden nach der deutsch-deutschen Grenzöffnung einem Tollhaus und es herrschte fröhliches anarchisches Treiben auf dem Marktplatz, was für organisierte Feierlichkeiten vor dem Rathaus keinen Raum ließ: "Unter dem Ansturm unserer Brüder und Schwestern aus der DDR gingen Bananen, Stadtprospekte und Begrüßungsgelder weg wie warme Semmeln. Kurz nach dem Öffnen der Rathaustüren zur Vergabe des Begrüßungsgeldes war der dort angehäufte Vorrat schon verbraucht. (...) Wiederholt mußte am Samstag und Sonntag Nachschub aus den Filialen der Stadtsparkasse geholt werden. (...) Damit das Geld auch ausgegeben werden konnte, öffneten mehrere Marburger Geschäfte am Sonntagnachmittag ihre Türen. (...) Zum Schluß sei "in ganz Mittelhessen keine Banane mehr" aufzutreiben gewesen, berichtete Heiner Dippel vom Einzelhandelsverband Hessen Nord." und "Hektische Geschäftigkeit herrschte (...) auf dem Marburger Marktplatz. Als der Einzelhandelsverband Marburg-Nord dort mit einem LKW mit Südfrüchten erschien, war das Gedränge vor dem Rathaus groß als die die vielen Besucher aus der DDR zusammenströmten." Und mit leisem Bedauern: „Wahrscheinlich ist nur ein Teil der Begrüßungsscheine in Marburg ausgegeben worden, denn viele DDR-Besucher machten sich wegen der chaotischen Verhältnisse an der Grenze gestern frühzeitig auf den Weg in die Heimat. "Eigentlich wollten wir die ausgezahlten 100.000 DM bei uns in Marburg wieder einnehmen", schmunzelte der Oberbürgermeister." Sehr schnell wird daher über verkaufsoffene Wochenenden nachgedacht, "damit diese (DDR-Besucher) nicht vor verschlossenen Geschäftstüren stehen, hat das Land Hessen bis Weihnachten die Ladenschlußzeiten aufgehoben." über die Geschäftsinteressen hinaus wurde auch erforscht, welches weitergehende Interesse die Besucher sonst noch so hätten und man fand heraus, das besonders persönliche Kontakte gesucht wurden - Welcher Ort der Stadt eignete sich da besser für das soziale Miteinander als der Marktplatz: "diesen Samstag werden auf dem Marktplatz wieder von 9-12h zusammen mit der OP private Einladungen an Tagesbesucher aus der DDR vermittelt."

      Die Verhältnisse verlangten zunehmend nach einer geregelten Kanalisation und Sinnstiftung, die die Bürgerschaften beider Partnerstädte vereinigte. Da bot sich Mitte Dezember ´89 der ganz große Bahnhof für die Eisenacher mit Enthüllung des Sophiendenkmals und Vereinigungsreden beider Bürgermeister an. Das die Enthüllung ausgerechnet auf den ersten Sonderzug aus Eisenach fiel "sei ein Zufall gewesen", von dem im Rathaus auf Nachfrage angeblich niemand mehr etwas wissen wollte. - Große Ereignisse warfen ihre Schatten voraus: Der von Eisenachs Bürgermeister Joachim Klapczynski vergangene Woche angekündigte Sonderzug aus der Partnerstadt in der DDR trifft am Sa. um 10.20h im Hauptbahnhof ein. Er fährt um 16.04h wieder zurück. - Erwartet werden mehr als 1.000 Eisenacher. (...) Gegen 13.00h findet mit Treffpunkt am Marktbrunnen eine Stadtführung statt. - Im Rathaus wird das Begrüßungsgeld am Samstag und Sonntag von 9-13h sowie nach Bedarf von 15-16h ausgezahlt." - Und damit die Gäste auch wissen, was sie zu tun haben, brachte die Oberhessische Presse die Beilage: "Willkommen in Marburg - Ein Magazin für unsere Partnerstadt Eisenach und für Besucher aus der DDR". Darin erfährt man: "Der kleine Stand oben neben dem Marktbrunnen vor dem Rathaus wurde schnell zur Anlaufstelle." Es folgen Tips, was die "Besucher" wo in Marburg vorfinden.

      So geschah es dann auch: Die Oberhessische Presse beschreibt die Ereignisse des Tages in einem Artikel "Mit so vielen Tränen der Freude - 1028 Eisenacher mit Sonderzug beim Partner - Denkmal eingeweiht". Im Text wird zunächst über die Fahrt der 1028 Eisenacher im Sonderzug berichtet, über ihre "fahrplanmäßige" Ankunft am Marburger Hauptbahnhof um 10.20h und das Fazit, mit dem OB Drechsler seinen Amtskollegen Klapzynski begrüßte zitiert: "So wird unsere Partnerschaft mit Leben erfüllt." Danach ging es hinauf zum Marktplatz, wo ab 11.00h der Festakt zur Denkmalsenthüllung stattfand und das Begrüßungsgeld im Rathaus ausgegeben wurde. Die Zeremonie begann mit einer Extra-Begrüßung der Besucher aus Eisenach und der Verteilung des Faltblattes zum Nachlesen der relevanten Reden des Tages. Nach Ansprachen der beiden OB's von Marburg und Eisenach, des Künstlers und anderer Honoratioren wurde das Denkmal feierlich enthüllt. Es folgte die Ansprache des Eisenacher Bürgermeisters und anderer Honoratioren, bevor das Denkmal enthüllt wurde. Abschließend wurden die geladenen Gäste zu einem Empfang in das Gasthaus "Zur Sonne" am Markt gebeten.

      Die Frankfurter Rundschau war die einzige Zeitung, die die Politikerreden dieses Tages auf dem Marktplatz, beziehungsweise den fehlenden Bogenschlag auf die tagespolitischen Ereignisse, indirekt komentierte: "Aktuellen Bezug hat die von der Stadtsparkasse gestiftete Bronzestatue allemal: Sophie spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte zwischen Hessen und Thüringen, die jetzt so oft wieder hervorgehoben und beschworen wird" aber "für die Zeitungen der Region scheint zwar die Enthüllung, aber nicht der Sonderzug stattgefunden zu haben."

      Eine Eisenacher Familie, die im Sonderzug dabei war und das angebotene Programm brav abgearbeitet hatte, schrieb einen Brief. Sie betonen angesichts der Geld- Schokolade- und Informationsmaterialspenden, der Begrüßung auf dem Bahnhof die enge Verbindung zwischen beiden Städten und: "So hatten wir das gute Gefühl, in unserer Partnerstadt Marburg (...) gern gesehene Gäste zu sein. (...) Weiter gingen wir durch die Fußgängerzone, erfreuten uns an der weihnachtlichen Dekoration und den herrlichen Auslagen, erwarben kleine Geschenke für die Lieben daheim und sorgten auch für unser leibliches Wohl. Um 13.00h fanden wir uns am Marktbrunnen ein (...). Unser Stadtführer überraschte uns als erstes mit der Mitteilung, daß soeben "sein" Oberbürgermeister und "unser" Bürgermeister eingetroffen seien. Wir schossen dann auch sofort ein Foto von ihnen (...). Danach besichtigten wir als erstes das ganz neue Denkmal der Sophie mit ihrem vierjährigen Kind, das Rathaus, die alten Gassen mit ihren schönen Fachwerkhäusern ..."

      Der beschriebene Akt des Fotografierens der Politiker ist ein rührendes Beispiel der demokratischen Art der Huldigung der Herrschaft durch den Wahl-Bürger, der sich seine Politiker zum Anfassen wünscht - womit wir wieder bei Sophie und dem zukünftigen Landgrafen Heinrich dem Kind sind. Sie wird gerne verkürzt betrachtet - und oft, wie auch von den briefschreibenden DDR-Besuchern, als Mutter mit Kind gesehen. Die Mißverständlichkeit der Figurengruppe wird mit der Zeit zur Legendenbildung führen und man wird sie mehr und mehr als Sinnbild der Mütterlichkeit betrachten, aber zum Glück gibt es zu ihren Füßen eine kleine Tafel, die das Dargestellte klarstellt. – Und was das bürgerliche Bewußsein angeht - denn nach den Worten des OB Drechsler sollte das neue Denkmal dazu dienen "das Geschichtsbewußtsein zu beleben." - reichte dann für den Gegenbesuch aus Marburg - eine Woche später - ein Linienbus mit 50 Sitzen ab Hauptbahnhof Marburg Eisenach aus, wie einer kleinen Notiz in der Lokalpresse eine Woche später zu entnehmen war...


Danach wurde der grundgesetzlich verankerte Aufruf zur Wiedervereinigung eingelöst und wir stehen am Anfang einer Geschichte, die sich wiederholt hat: Einmal als Tragödie, ein zweites Mal als Farce: Der Eiserne Vorhang ist mittlerweile gefallen; das Kind ist auch in den Brunnen gefallen, - und das Programm der freiplastischen Denkmäler des Marktplatzes erhielt letztlich seinen Sinn in den Festreden zum kalten Krieg und zur deutschen Wiedervereinigung...




© Herbst 1997 by Siegrid Schmeer, Marburg



  
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